Skulptur in MitteldeutschlandSpätgotik bis Frühbarock
Der sogenannte Faltenwurf zählte zu den wesentlichen gestalterischen Aufgaben der Skulptur in allen Kunstepochen vom Mittelalter bis zum Beginn der Moderne. Die Gewandfigur als Hauptaufgabe der Bildschnitzer und Bildhauer wird durch die Faltenformen maßgeblich in ihrer Körperlichkeit, Bewegtheit oder statischen Strenge bestimmt. Der sogenannte Faltenstil wandelte sich dabei mit den Epochen und lässt manchmal auch regionalspezifische Merkmale erkennen. Zur Beschreibung der unendlich vielfältigen Einzelformen und Strukturen gefalteter Oberflächen etablierte die Kunstgeschichte seit dem späten 19. Jahrhundert eine große Zahl von Fachbegriffen, die zum Teil aus der Welt der Mode oder der Geologie entlehnt wurden und durch vielfältige Attribute näher bestimmbar sind. Die folgenden Beispiele illustrieren eine Auswahl häufig verwendeter Faltenbegriffe.
Die hier unter den Füßen der Madonna angeordnete Bogenfalte mit scharfgratigem Faltenrücken assoziiert zugleich eine Mondsichel, die zum Darstellungstyp der „Mondsichelmadonna“ gehört. Die Diagonalfalten verlaufen bei diesem Beispiel mit dem emporgerafften Mantel vor dem Unterleib von links unten nach rechts oben. Ein anderer richtungsbezogener Faltenbegriff ist jener der Senkrechtfalten. Selbsterklärend ist der Begriff der Fächerfalte, die hier von der Hüfte der Madonna nach unten ausstrahlt und aus Faltenröhren mit Faltentälern komponiert ist. Das seitlich der Kniebeuge entstehende Faltennest ist eine Eindellung, von der mehrere Faltenzüge ausstrahlen.
Faltenwirbel (oder auch Wirbelfalten) sind eine rundliche Formation dynamisch kreisender Faltenzüge, Faltentäler und Faltendellen, nicht unähnlich der „Faltenschnecke“, aber begrifflich weiter gefasst.
Die besonders prächtige Faltenformation der Kaskadenfalte, gebildet aus mehreren, wie ein Wasserfall übereinander stürzenden „Tütenfalten“, ist insbesondere typisch für den sogenannten Weichen (oder: Schönen) Stil in den Jahrzehnten um 1400.
Die hier gezeigte Muldenfalte besteht aus einer länglichen Eindellung. Ähnliche Formen bestimmen das gesamte Faltenbild dieser Figur.
Die enganliegenden schmalen Parallelfalten und die tendenziell zylinderförmigen Röhrenfalten zählen zu den häufigsten Faltenformen. Schleppfalten resultieren im Bereich des unteren Gewandsaums aus der Darstellung einer Schritt- oder Drehbewegung.
Der Begriff der Schlüsselfalte assoziiert die Wellenform eines Schlüsselbarts. Schneckenfalten meinen spiralförmige Faltenwirbel und die rundliche Schüsselfalte ähnelt ungefähr dem Ausschnitt einer Schüssel in Aufsicht. Schüsselfalten sind als Faltenschürze häufig übereinander vor Bauch und Unterleib der Figur angeordnet.
Die Schwungfalte entsteht wie die Schleppfalte durch eine Schreit‑, Dreh- oder Zugbewegung, bezieht sich aber auf einen längeren Faltenzug oberhalb des Fußbereichs. Staufalten bilden sich um die Füße der Figur durch den überlangen Rock oder Mantel und können sehr vielfältige rundliche, schlängelnde, eckig brechende oder knittrige Strukturen annehmen.
Eine Tütenfalte gleicht einer rundlichen, spitzauslaufenden Tüte, die mit der Öffnung nach unten gekehrt ist und häufig bündelweise auftritt. Die Profile der V‑Falte und der Y‑Falte ähneln in Aufsicht den jeweiligen Buchstaben.
Abbilungen
jeweils v. l.n.r. TAFEL 1 (Bogenfalte …): ehem. Kunstgewerbemuseum Leipzig, Madonna aus Schweinsberg, um 1500 (aus: W. Hentschel, Sächische Plastik um 1500, Dresden 1926, Abb. 24a); Bad Gandersheim, Stiftskirche St. Anastasius und Innocentius, Dreikönigsretabel, um 1490; Halle-Saalkreis (Ev. Kirchenkreis), Schnitzretabel, A. 16. Jh.; Halle (Saale), Dom, Pfeilerfigur des Hl. Petrus, um 1525 – TAFEL 2 (Faltenwirbel …): Leipzig, Stadtgeschichtliches Museum, Schmerzensmutter aus Plaußig (aus: W. Hentschel, Sächische Plastik um 1500, Dresden 1926, Abb. 59) – Eisenach, Predigerkirche, Thüringer Museum (Depot), Altarfigur der Maria mit Christusknaben, um 1400; Landkreis Harz — Halberstadt, Dom St. Stephanus und St. Sixtus, Pfeilerfigur des hl. Judas Thaddäus, um 1510; Eisenach, Predigerkirche, Thüringer Museum, Altarfigur des Hl. Paulus aus Kleingschwenda, um 1520 – TAFEL 3 (Parallelfalten …): Halle (Saale), Stadtgottesacker, Grabplatte der Anna Stroberger, Ende 16. Jh.; Quedlinburg, St. Wiperti, Marienretabel in St. Wiperti, 1485; Erfurt, Severikirche, Severisarkophag, um 1365; Sachsen-Anhalt, Pietà, 2. H. 15. Jh. – TAFEL 4 (Schlüsselfalte …): Halle-Saalkreis (Ev. Kirchenkreis), Schnitzretabel, A. 16. Jh.; Erfurt, Dommuseum, Anna selbdritt; Erfurt, Severikirche, Severisarkophag, um 1365 – TAFEL 5 (Schwungfalten …): Eisenach, Predigerkirche, Thüringer Museum, Altarfigur der Maria mit Christusknaben, um 1510; Bautzen, Dom, Altar, 1722; Bautzen, Stadtmuseum, Altarfiguren der Verkündigung an Maria, 3. Viertel 15. Jh. – TAFEL 6 (Tütenfalte …),Bad Gandersheim, Stiftskirche St. Anastasius und Innocentius, Dreikönigsretabel, um 1490; Quedlinburg, St. Wiperti, Marienretabel, 1485; Halberstadt (Ev. Kirchenkreis), Schnitzretabel, 2. Hälfte 15. Jh.
Text und Bildredaktion: Sebastian Schulze (2021) unter Einbeziehung studentischer Projektarbeit
Warning: Attempt to read property "term_id" on bool in /var/www/html/minerva.kunstgesch.uni-halle.de/wp-content/plugins/responsive-menu/v4.0.0/inc/classes/class-rmp-menu.php on line 441