Skulptur in Mitteldeutschland

Spätgotik bis Frühbarock

Die Kanzel zählt neben Altar und Taufe zu den drei soge­nann­ten Prin­zi­pal­stü­cken der Kir­chen­aus­stat­tung. Sie ent­wi­ckelte sich in ihrer heute gän­gi­gen Form sehr wahr­schein­lich seit dem 13. Jh. aus trans­por­ta­blen Pre­digt­stüh­len, welche die Mönche der Bet­tel­or­den der Fran­zis­ka­ner, Domi­ni­ka­ner und Augus­ti­ner zur Anspra­che der Gläu­bi­gen im Freien auf­stell­ten. Dar­stel­lun­gen des 14. und 15. Jh. zeigen solche Pre­digt­stühle mit den Grund­ele­men­ten einer Kanzel: dem Korpus (auch Kufe, Faß oder Bütte genannt), dem Fuß in Form  einer oder meh­re­rer Stützen und der Treppe, die zunächst auch aus einer ein­fa­chen Spros­sen­lei­ter bestehen konnte. Mit der Errich­tung der geräu­mi­gen Bet­tel­or­dens­kir­chen, etwas später auch in Pfarr­kir­chen, wurden Kanzeln im Innen­raum in der Regel in der Mitte der süd­li­chen Lang­haus­wand oder am mitt­le­ren Pfeiler auf der süd­li­chen Seite des Haupt­schiffs ange­bracht. Ver­stärkt seit der Refor­ma­tion musste infolge der Auf­stel­lung von festem Gestühl in den Pfarr­kir­chen die Kanzel in die Nähe des Altars gerückt werden. Sie wurde nun in der Regel an der Grenze von Altar- und Gemein­de­raum am Chor­bo­gen ange­bracht (Chor­bo­gen­stel­lung). Kanzeln wurden bis etwa 1590 zumeist aus Stein, danach immer häu­fi­ger aus Holz gefertigt.

Gesamtaufbau

Bildglossar_Kanzel Folie1
1 Schall­de­ckel | 2 Korpus / Kan­zel­korb | 3 Brust­zone | 4a Kan­zel­säule | 4b Kan­zel­trä­ger | 5 Kan­zel­treppe / Kan­zel­trep­pen­brüs­tung | 6 Kan­zel­por­tal | 7 Kan­zel­rück­wand | 8 Über­gang (zwi­schen Treppe und Korb)
 
Die Haupt­be­stand­teile einer voll aus­ge­bil­de­ten Kanzel sind der Korpus oder Kan­zel­korb, der Kan­zel­trä­ger, die Treppe mit Brüs­tung und Portal sowie der Schall­de­ckel. Erst im Barock findet die Kan­zel­rück­wand stär­kere Ver­brei­tung, die den Kan­zel­korb mit dem Schall­de­ckel verbindet.

Kanzelkorb

1 Fries | 2 Feld | 3 Tren­nungs­säule (oder Tren­nungs­sta­tu­ette) | 4 Sockel 
 
Der Grund­riss der Kan­zel­körbe ist zumeist poly­go­nal, sel­te­ner rund. Beson­ders häufig sind acht­eckige Grund­risse, wobei sich die Seiten auf Brüs­tung, Wand- oder Pfeiler und Zugang auf­tei­len. Den häu­figs­ten figür­li­chen Schmuck der Kanzel bilden Dar­stel­lun­gen der Evan­ge­lis­ten oder Evan­ge­lis­ten­sym­bole („iko­no­gra­phi­sches Nor­mal­pro­gramm“). Sie sind als Reliefs vor der Brüs­tung immer in der Rei­hen­folge der bibli­schen Bücher ange­ord­net (Mat­thäus, Markus, Lukas und Johan­nes). Häufig tritt zu den Evan­ge­lis­ten die Dar­stel­lung Christi in der Mitte der vier Evan­ge­lis­ten („Haupt­feld“). Figuren der Apostel sind meist als Tren­nungs­sta­tu­et­ten zwi­schen den Feldern von Korpus und Trep­pen­brüs­tung auf­ge­stellt, oft alle zwölf Apostel ergänzt durch Chris­tus. In der Gotik sind Dar­stel­lun­gen der Kir­chen­vä­ter ver­brei­tet. Sel­te­ner sind Figuren der Kir­chen­pa­trone oder anderer Hei­li­ger. Seit dem 16. Jahr­hun­dert begeg­nen auch Per­so­ni­fi­ka­tio­nen der sieben christ­li­chen und welt­li­chen Kar­di­nal­tu­gen­den in wech­seln­der Auswahl als Kan­zel­schmuck. Sze­ni­sche Reliefs in den Feldern der Kan­zel­korbs zeigen zumeist die Haupt­er­eig­nisse der neu­tes­ta­men­ta­ri­schen Heils­ge­schichte (Geburt Christi, Kreu­zi­gung, Auf­er­ste­hung und Him­mel­fahrt). Ergänzt werden sie manch­mal durch Szenen des Alten Tes­ta­ments an der Brüs­tung des Trep­pen­auf­gangs. Beson­ders beliebt sind hier der Sün­den­fall, die Erschaf­fung Evas, Isaaks Opfe­rung oder die Auf­rich­tung der ehernen Schlange.

Brustzone

1 kelch­för­mige Brust­zone | 2 mit Reliefs und Volu­ten­span­gen | 3 mit Hermen und Abhängling
 
Die soge­nannte Brust­zone ver­bin­det Kan­zel­korb und Kan­zel­trä­ger. Die Bezeich­nung wurde von W. Posch­arsky (1963) aus einem Werk­ver­trag des Jahres 1613 abge­lei­tet. Beson­ders häufig sind Brust­zo­nen in Kelch­form. Vor allem seit dem späten 16. Jahr­hun­dert wurde die Brust­zone durch Hermen, Volu­ten­span­gen oder andere Schmuck­ele­mente auf­ge­löst. Sel­te­ner nahm sie nun auch Reliefs auf. Ist der Korb ohne Stütze vor dem Pfeiler ange­bracht, kann er in einem kugel­för­mi­gen Schmuck­knauf auslaufen.

Kanzelsäule / Kanzelträger

1 kan­de­la­ber­för­mige Trä­ger­säule (um 1520) | 2 Trä­ger­säule auf Pos­ta­ment (um 1590) | 3 Engel als Kan­zel­trä­ger (um 1595)) | 4 Kan­zel­mo­ses (um 1640)
 
Der zumeist in der Wand befes­tigte Kan­zel­korb kann tat­säch­lich oder schein­bar auf einer Konsole ruhen, auf einer Säule oder einer Trä­ger­fi­gur. Bis 1590 war in Mit­tel­deutsch­land die manch­mal reich geschmückte Säule der vor­herr­schende Träger, danach wurden auch figür­li­che Kan­zel­trä­ger häu­fi­ger, ins­be­son­dere in Gestalt des Moses mit Stab, Buch oder Geset­zes­ta­feln, sel­te­ner als Paulus, Petrus, König David oder Simson mit dem Esels­kinn­ba­cken, als Evan­ge­list, Apostel oder Hl. Chris­to­pho­rus. Oft dienen auch Engel in ver­schie­de­nen Stel­lun­gen als Kan­zel­trä­ger. Als Konsole aus­ge­bil­det, können sie sogar flie­gend dar­ge­stellt sein. Eine seltene Son­der­form sind die von einem Berg­mann getra­ge­nen Kanzeln in Berg­bau­or­ten, z.B. im Dom von Freiberg

Portal

1 Bekrö­nung | 2 Gie­belauf­satz | 3 Tür mit Feldern
 
Der Trep­pen­zu­gang zur Kanzel ist in der Regel vom Kir­chen­schiff aus nicht oder nur ein­ge­schränkt sicht­bar. Dennoch erhiel­ten viele Kanzeln seit der Spät­go­tik ein oft auf­wen­dig geschmück­tes Portal mit ver­schließ­ba­rer Tür, flan­kie­ren­den Säulen auf Pos­ta­men­ten, einem mehr­zo­ni­gen, über den Säulen manch­mal ver­kröpf­ten Gesims und einem Gie­belauf­satz. Die Bekrö­nung des Gie­belauf­sat­zes bilden bei beson­ders reichen Kanzeln eine oder mehrere Figuren. Das häu­figste Bild­thema am Kan­zel­por­tal sind Dar­stel­lun­gen Christi als Sal­va­tor Mundi, Wel­ten­rich­ter, Ecce homo, Gekreu­zig­ter, Zwölf­jäh­ri­ger im Tempel oder Guter Hirte.

Kanzeldeckel

1 Bekrö­nung | 2 Laterne | 3 Gie­belauf­satz | 4 Fries | 5 Unter­sicht | 6 Statuetten
 
Schall­de­ckel zur Ver­bes­se­rung der Akustik der Predigt sind schon seit dem frühen 15. Jh. nach­weis­bar. Sie wurden in der Regel aus Holz gefer­tigt, nehmen den Grund­riss des Kan­zel­kor­bes auf und sind in der Regel in der Wand bzw. am Kan­zel­pfei­ler ver­an­kert, seit dem Barock manch­mal auch durch eine Kan­zel­rück­wand mit dem Korb ver­bun­den. Die Deckel rei­che­rer Kanzeln wurden oft durch viel­ge­stal­tige, mehr­ge­schos­sige Auf­sätze erwei­tert. Gestal­tungs­va­ri­an­ten sind Bal­da­chin­ar­chi­tek­tu­ren mit figür­li­cher Bekrö­nung oder pyra­mi­den­för­mige Auf­bau­ten, sel­te­ner Schall­de­ckel in Form eines Turm­helms oder einer durch­bro­che­nen Stre­be­werk­struk­tur. Im Zentrum der Unter­sicht ist meis­tens die Taube des Hei­li­gen Geistes ange­bracht. Der Fries des Deckels kann Bibel­sprü­che, Orna­mente oder Engels­köpfe auf­neh­men und unten durch Gehänge ergänzt werden. Über dem Gesims stehen häufig orna­men­tale Gie­bel­fel­der, zum Teil mit figür­li­chem Schmuck, und manch­mal Sta­tu­et­ten der Evan­ge­lis­ten, Apostel, Pro­phe­ten, Tugen­den, Kin­der­en­gel oder Engel mit den Lei­dens­werk­zeu­gen Christi. Unter der Laterne finden sich meis­tens Skulp­tu­ren des Gna­den­stuhls, der Taufe Christi oder des pre­di­gen­den Johan­nes. Die Spitze der Auf­bau­ten bekrönt meis­tens Chris­tus als Auf­er­stan­de­ner oder Wel­ten­rich­ter mit Welt­ku­gel, auch in kind­li­cher Gestalt.

Sondertypen: Kanzelaltar und Epitaphkanzel

1 Reta­bel­kan­zel | 2 zusam­men­ge­setz­tes Kanzelretabel
 

Der Kan­zel­al­tar ver­bin­det Altarr­e­ta­bel und Kanzel. Er wurde seit dem späten 16. Jahr­hun­dert ent­wi­ckelt, um die abwei­chen­den Achsen bei der getrenn­ten Auf­stel­lung von Altar und Kanzel zu beheben. Es lassen sich viel­fäl­tige Typen unter­schei­den. Die häu­figste Form ist die in ein oder zwei Geschos­sen auf­ge­baute Reta­bel­kan­zel mit dem Kan­zel­kor­pus im Zentrum des Reta­bels. Nicht selten sind auch nach­träg­lich zusam­men­ge­setzte Kan­zel­al­täre, bei denen neue oder bereits vor­han­dene frei­ste­hende Kanzeln in ältere Altarr­e­ta­bel ein­ge­baut wurden. Solche Kan­zel­al­täre wurden seit etwa 1700 gebaut, vor allem aber in der zweiten Hälfte des 18. Jahr­hun­derts. Von Kan­zel­al­tar­wän­den spricht man, wenn der sehr breite Kan­zel­al­tar zwei seit­li­che Durch­gänge besitzt.

Zuwei­len wurden Kanzeln durch Stif­ter­in­schrif­ten auch dem Andenken des Stif­ters gewid­met. Selten wurden sie sogar durch Dar­stel­lun­gen ergänzt, die den Stifter oder die Stif­ter­fa­mi­lie dar­stell­ten. In diesen Fällen spricht man von Epitaphkanzeln.

Literatur

Posch­arsky 1963 | Peter Posch­arsky: Die Kanzel. Erschei­nungs­form im Pro­tes­tan­tis­mus bis zum Ende des Barocks (=Schrif­ten­reihe des Insti­tu­tes für Kir­chen­bau und kirch­li­che Kunst der Gegen­wart, Bd. 1), Güters­loh 1963.

Abbildungsverzeichnis:

TAFEL 1 (“Gesamt­auf­bau”), oben links: Goslar, St, Jakobi, 1620; unten links: Ev. Kir­chen­kreis Eisleben-Sömmerda, 1593; mitte und links: Halle (Saale), Moritz­kir­che, Korb 1592, Schall­de­cke 1604 — TAFEL 2 (“Kan­zel­korb”), oben links: Claus­thal, Markt­kir­che Zum Hei­li­gen Geist, 1642; unten links: Ev. Kir­chen­kreis Hal­ber­stadt, 1595; rechts: Halle (Saale), Moritz­kir­che, 1592 — TAFEL 3 (“Brust­zone”), oben rechts: Ev. Kir­chen­kreis Eisleben-Sömmerda, 1. Hälfte 17. Jh.; oben links: Eis­le­ben, St. Annen, 1608; unten: Goslar, Markt­kir­che St. Cosmas und Damian, 1581 — TAFEL 4 (“Kanzelsäule/Kanzelträger”), Abb. 1: Halle (Saale), Dom, 1526; Abb. 2: Halle (Saale), Moritz­kir­che, 1592; Abb. 3: Ev. Kir­chen­kreis Hal­ber­stadt, 1595; Abb. 4. Claus­thal, Markt­kir­che Zum Hei­li­gen Geist, 1642 — TAFEL 5 (“Portal”), links: Goslar, St. Jakobi, 1620 u. A. 18. Jh.; Mitte oben: Ev. Kir­chen­kreis Eisleben-Sömmerda, 1. Hälfte 17. Jh.; Mitte unten: Ev. Kir­chen­kreis Hal­ber­stadt, 1595; rechts: Halle (Saale), Moritz­kir­che, 1592 — TAFEL 6 (“Kan­zel­de­ckel”), links oben: Ev. Kir­chen­kreis Hal­ber­stadt, 1595; links unten links: Ev. Kir­chen­kreis Eisleben-Sömmerda, 1592; links unten rechts: Ev. Kir­chen­kreis Eisleben-Sömmerda, 1. Hälfte 17. Jh.; rechts: Halle (Saale), Moritz­kir­che, 1592.
 
 

Text und Bild­re­dak­tion: Sebas­tian Schulze (2020)


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