Skulptur in Mitteldeutschland

Spätgotik bis Frühbarock

Stein­metz, Bild­hauer und Bild­schnit­zer in Mag­de­burg, geb. wohl um 1570 in Über­lin­gen, nach­weis­bar 1595–1612, gest. vor 1617

 

Biogramm

Sebas­tian Ertle zählt zu den füh­ren­den Meis­tern der soge­nann­ten Mag­de­bur­ger Bild­hau­er­schule um 1600. Durch die Signa­tur des Bredow-Epitaphs im Mag­de­bur­ger Dom ist seine Her­kunft aus der süd­deut­schen Reichs­stadt Über­lin­gen am Boden­see ver­bürgt, wo damals eine Stein­metz­fa­mi­lie Ortlin, Oertlin oder Ertlin tätig war. Eine von Deneke (1911: 52 f) ver­mu­tete Lehr­zeit Ertles bei dem Bild­hauer Hans Morinck aus Kon­stanz ist nach Ratzka (1998, S. 101–103) „rein spe­ku­la­tiv“. Zwi­schen 1590 und 1595 ist der Stein­metz „Bastian“ aus Über­lin­gen als Geselle des Bild­hau­ers Bal­tha­sar Kircher in Braun­schweig nach­weis­bar und als solcher 1590/91 neben vielen anderen Stein­met­zen am Bau des Braun­schwei­ger Gewand­hau­ses mit seiner reich geschmück­ten Ost­fas­sade betei­ligt (Meier 1936, S. 28). Ab 1595 ist Ertle dann im Auftrag des Meis­ters Chris­toph Kapup als Geselle an der Fer­ti­gung der Kanzel im Mag­de­bur­ger Dom betei­ligt. Die mehr­fa­che Anbrin­gung seines Stein­metz­zei­chens an pro­mi­nen­ten Stellen der Kanzel spricht dafür, dass er hier nach Kapup der wich­tigste Bild­hauer war.

1601 signierte Ertle nun als Meister mit vollem Namen das Epitaph für Wichard von Bredow im Mag­de­bur­ger Dom. Dabei ver­wen­dete er erst­ma­lig sein Meis­ter­schild, gestal­tet aus einem ovalen Schild­bu­ckel mit Stein­metz­zei­chen, gekreuz­ten Schlüs­seln und den umlau­fen­den Worten „M(eister) BASTIAN ERLE V(on) VBERLINGEN STAINEMTZ”. Abwei­chend von seiner Selbst­be­zeich­nung als Stein­metz wird er in den Quellen durch­gän­gig als Bild­hauer oder Bild­schnit­zer bezeich­net. Da übli­cher­weise Meis­ter­recht und Werk­statt­grün­dung mit einer Heirat ver­bun­den waren, ist davon aus­zu­ge­hen, dass sich Ertle um etwa 1600 mit Sophia, der Tochter des wohl­ha­ben­den Mag­de­bur­ger Patri­zi­ers Abraham Wulf ver­ehe­lichte: Urkund­lich nach­weis­bar ist die Gattin Ertles seit 1606, als die Ehe­leute mit dem Tod ihres Vaters mehrere Grund­stü­cke in Mag­de­burg erbten (Vgl. Ratzka 1998, Teil II, S. 101–103).

Kurz nach Voll­endung des Bredow-Epitaphs beauf­tragte der Mag­de­bur­ger Dom­de­kan Ludwig von Lochow (1547–1616) Ertle mit dem ver­mut­lich um 1602/03 ent­stan­de­nen großen Hän­ge­epi­taph am nord­west­li­chen Vie­rungs­pfei­ler des Mag­de­bur­ger Doms, dessen Archi­tek­tur durch einen weit vor­ge­zo­ge­nen mehr­ge­schos­si­gen Bal­da­chin über U‑förmiger Sockel­platte beein­druckt. Am 23. Juni 1604 schloss das Mag­de­bur­ger Dom­ka­pi­tel mit Ertle und dem Tisch­ler Chris­toph Zim­mer­mann einen Werk­ver­trag zur Fer­ti­gung des Orgel­pro­spekts der neuen großen Orgel des Mag­de­bur­ger Doms. Die 1830 abge­bro­chene Orgel des Orgel­bau­ers Hein­rich Com­pe­nius aus Halle galt einst als das groß­ar­tigste Aus­stat­tungs­stück des Doms. Der Werk­ver­trag mit Ertle und Zim­mer­mann bestimmte die Anfer­ti­gung von 24 Figuren, 18 Reliefs und 13 Wappen. Zwölf Figuren waren beweg­lich, dar­un­ter mehrere Engel mit Instru­men­ten, die am Micha­els­tag, dem 29. Sep­tem­ber, vor großer Zuschau­er­menge in Bewe­gung gesetzt wurden, um zu musi­zie­ren. Wie auch spätere Urkun­den nennt der Vertrag als Wohnort Ertles den Prae­la­ten­berg, gelegen in der Mag­de­bur­ger Vor­stadt Suden­burg (Vgl. Ratzka 1998: Teil 2, S. 20 f und 114 f).

Schon früh lässt sich eine Tätig­keit Ertles auch außer­halb Mag­de­burgs nach­wei­sen: 1602 ließen sich die Vor­ste­her der Markt­kir­che in Halle von “dem Bild­schni­zer m. Bastian von Mag­de­burgk” den Entwurf einer Kanzel vor­le­gen, der aller­dings unaus­ge­führt blieb (Schulze 2014, S. 250). 1605 wurde Ertle mit dem Epitaph des Hal­ber­städ­ter Dom­de­kans Caspar von Kan­nen­berg (gest. 1605) im Hal­ber­städ­ter Dom beauf­tragt. Die Fer­tig­stel­lung das umfang­rei­chen Hän­ge­epi­taphs schon Mitte 1606 belegt ein­drucks­voll die Leis­tungs­fä­hig­keit seiner Bild­hau­er­werk­statt. Die Selbst­be­zeich­nung Ertles auf dem Meis­ters­schild dieses Denk­mals als „Stein­metz zu Mag­de­burg“ beweist, dass er spä­tes­tens zu diesem Zeit­punkt das Mag­de­bur­ger Bür­ger­recht besaß.

Das Epitaph für Johann von Lossow (1523–1605) befand sich im süd­li­chen Sei­ten­schiff des Mag­de­bur­ger Doms und ist nach seiner starken Beschä­di­gung im Zweiten Welt­krieg nur in maga­zi­nier­ten Frag­men­ten erhal­ten. Der in Abschrift über­lie­ferte Werk­ver­trag für dieses Denkmal, geschlos­sen zwi­schen den Tes­ta­ments­voll­stre­ckern und dem Bild­hauer am 24. 4. 1606, gibt wert­volle Auf­schlüsse über die Bedin­gun­gen, Mate­ria­lien und Kosten des Auf­trags. Zeit­gleich mit dem Lossow-Epitaph ent­stand das in Aufbau und Bild­pro­gramm sehr ähn­li­che Epitaph für den Stifts­haupt­mann Mel­chior von Arn­stadt (gest. 1606) in der Stadt­kir­che von Jeri­chow. Beide Denk­mä­ler wurden 1609 fer­tig­ge­stellt. Sein letztes gesi­cher­tes Werk voll­endete der Meister 1610 mit dem Epitaph für Fried­rich von Arn­stedt (1548–1608) im süd­li­chen Sei­ten­schiff des Mag­de­bur­ger Doms. Das Denkmal wurde im Zweiten Welt­krieg stark beschä­digt; seine Rekon­struk­tion ist gegen­wär­tig in Vor­be­rei­tung. Ratzka (1998, S. 91) bezeich­nete dieses Denkmal als das “ent­wick­lungs­ge­schicht­lich bedeu­tendste Werk Ertles”, dessen abwechs­lungs­reich rhyth­mi­sierte und stark räum­li­che Tek­to­nik von der Mag­de­bur­ger Bild­haue­rei im Fol­gen­den wei­ter­ent­wi­ckelt und gestei­gert wurde.

Wahr­schein­lich starb Ertle Ende 1612, denn nach 1612 ist er weder durch Werke noch archi­va­li­sche Nach­rich­ten zu belegen. Mit einem Werk­ver­trag vom 6. 10. 1612 wird nicht er, sondern Chris­toph Dehne mit der Anfer­ti­gung des Epi­taphs für den Mag­de­bur­ger Dom­de­kan Ludwig von Lochow in Ketzür beauf­tragt. Mit Sicher­heit ist er spä­tes­tens 1617 ver­stor­ben, denn in diesem Jahr wird seine Witwe als Frau Chris­toph Dehnes erwähnt. Dehne über­nahm mit der Heirat der Meis­ters­witwe jeden­falls die Werk­statt Ertles und eta­blierte sich in dessen Nach­folge bis zum Ein­bruch des Drei­ßig­jäh­ri­gen Krieges als füh­ren­der Bild­hauer in Magdeburg.

G. Deneke (1913, S. 145), der sich als erster Kunst­his­to­ri­ker ein­ge­hend mit Ertle aus­ein­an­der­setzte, lobte zwar die „Geschick­lich­keit“ und den „rast­lo­sen Fleiß“ des Meis­ters, die hand­werk­li­che Per­fek­tion, seine Sicher­heit in der Erstel­lung figür­li­cher und archi­tek­to­ni­scher Kom­po­si­tio­nen, empfand aber ander­seits die Werke als über­la­den, glatt und äußer­lich. Die häu­fi­gen for­ma­len und inhalt­li­chen Wie­der­ho­lun­gen im Schaf­fen der Werk­statt erklärte sich Deneke aus der Menge der Auf­träge, die durch zahl­rei­che Mit­ar­bei­ter unter Leitung Ertles zügig abzu­ar­bei­ten waren. Gemäß damals gän­gi­ger Werk­statt­pra­xis wurden die Orna­mente und Reliefs von druck­gra­phi­schen Vor­la­gen zumeist nie­der­län­di­scher Künst­ler übernommen.

Tat­säch­lich ent­spricht der super­la­tive Reich­tum figür­li­cher und orna­men­ta­ler Details dem zeit­ty­pi­schen Streben der Auf­trag­ge­ber zur Selbst­dar­stel­lung mittels immer grö­ße­rer und präch­ti­ge­rer Grab­denk­mä­ler, eine Tendenz, die um etwa 1610 ihren Höhe­punkt erreichte. Nach dem ersten Gesamt­ein­druck kühler Pracht ent­hüllt die Nah­sicht der Ert­le­schen Werke ihre hohe Detail­qua­li­tät und eine beträcht­li­che sti­lis­ti­sche Viel­falt der figür­li­chen Plastik, ent­spre­chend der koope­ra­ti­ven Aus­füh­rung der Groß­auf­träge. Zu den Mit­ar­bei­tern Ertles zählte höchst­wahr­schein­lich Chris­toph Dehne, der nach dem Tod des Meis­ters als füh­ren­der Mag­de­bur­ger Bild­hauer mit seinem manie­ris­ti­schen, stark expres­si­ven und vom Knor­pel­werk­or­na­ment über­wu­cher­ten Epi­ta­phien von der Spät­re­nais­sance zum Barock über­lei­tete. Für die Werk­statt Ertles arbei­tete zeit­weise mög­li­cher­weise auch der Bild­hauer Hans Hierzig aus Über­lin­gen. Dessen bislang ein­zi­ges bekann­tes Werk ist das viel­leicht um 1607 ent­stan­dene Epitaph für Chris­toph und Ursula von Eck­stedt in der Unter­kir­che Sankt Nikolai in Burg bei Magdeburg.

Werke

HALBERSTADT

Dom:

  • Epitaph des Dom­her­ren Caspar von Kan­nen­berg (1533–1605), 1605/06, archi­va­lisch gesi­chert und signiert: „BASTIAN ERTLE STEINMETZ ZU MAGDE

JERICHOW

Stadt­pfarr­kir­che:

  • Epitaph für Mel­chior von Arn­stedt, dat. 1609, signiert und datiert „M(eister) BASTIAN ERTLE, STEINMEZ ZU MAGDEBURG Ao 1609

MAGDEBURG

Dom:

  • Epitaph für den Dom­herrn Wichard von Bredow d. Ä. (1543–1610), datiert 1601, signiert: „M(eister) BASTIAN ERTLE V UBERLING: STAINMETZ
  • Epitaph des Mag­de­bur­ger Dom­de­kans Ludwig von Lochow (1547–1616), ehemals signiert, wohl um 1602/03
  • ehe­ma­li­ges Orgel­ge­häuse und Orgel­em­pore, 1604/05, 1830 abge­bro­chen, bis auf geringe Frag­mente verloren
  • Epitaph für Johann von Lossow (1523–1605), 1945 zer­stört, in Frag­men­ten erhalten
  • Epitaph für Fried­rich von Arn­stedt (1548–1608), dat. 1610, ehemals signiert „BASTIAN ERTLE STEINMETZ“, im Zweiten Welt­krieg stark beschä­digt, Frag­mente erhal­ten, zum Teil am ursprüng­li­chen Anbrin­gungs­ort, zum Teil ein­ge­la­gert, gegen­wär­tig in Rekonstruktion

LÖDERBURG, ORTSTEIL ATHENSLEBEN

Rit­ter­gut:

  • kleine Wappen an der Tor­ein­fahrt, wohl gleich­zei­tig mit dem bis 1974 nach­weis­ba­ren „Dom­her­ren­denk­mal“ am nicht mehr vor­han­de­nen Hof­ge­bäude des Rit­ter­guts, einen von 14 Domherren-Wappen mit Inschrift, datiert 1602, signiert mit Name und Meis­ter­zei­chen Ertles

Zu wei­te­ren, über­wie­gend unsi­che­ren oder frag­wür­di­gen Zuschrei­bun­gen an Sebas­tian Ertle und den Ertle-Umkreis vgl. Deneke 1913 und Ratzka 1998, Teil II, S. 30–41. Als Arbeit der Mag­de­bur­ger Werk­statt in Betracht zu ziehen ist außer­dem die Guss­form der Bron­ze­grab­platte für Caspar von Kan­nen­berg (gest. 1605) in Hal­ber­stadt, zuge­hö­rig zu dem für Ertle gesi­cher­ten Kannenberg-Epitaph.

 

Literatur

Beck 1904  | Paul Beck, Ein alter schwä­bi­scher Stein­metz im Norden, in: Diözesan-Archiv von Schwa­ben: Organ für Geschichte, Alter­tums­kunde, Kunst und Kultur der Diözese Rot­ten­burg und der angren­zen­den Gebiete, Bd. 22 (1904), S. 131–134.

Deneke 1910 | Günther Deneke: Mag­de­bur­gi­sche bil­dende Künst­ler vor 1631 (= Geschichts­blät­ter für Stadt und Land Mag­de­burg. Mit­tei­lun­gen des Vereins für Geschichte und Alter­tums­kunde des Her­zog­tums und Erz­stifts Mag­de­burg, 45. Jg.), Mag­de­burg 1910, S. 325–346.

Deneke 1910/13 | Günter Deneke: Die Mag­de­bur­gi­schen Hochrenaissance- und Barock-Bildhauer, in: Sit­zungs­be­richte der Kunst­ge­schicht­li­che Gesell­schaft zu Berlin, 1910/13, S. 120–122.

Deneke 1911 | Günther Deneke: Mag­de­bur­gi­sche Bild­hauer der Hoch­re­nais­sance und des Barock, Phil. Diss. Halle, Halle/Saale 1911, S. 56 ff.

Deneke 1913 | Günther Deneke: Mag­de­bur­ger Renaissance-Bildhauer, in: Monats­hefte für Kunst­wis­sen­schaft, Jg. 6 (1913), 3, S. 99–110, 4, S. 145–159, 5, S. 205–212,  hier S. 148 ff.

Peters 1914/15 | Otto Peters: Sebas­tian Ertle ein Mag­de­bur­ger Bild­hauer um 1600, und das Epi­ta­phium von Lossow im Dom, in: Geschichts­blät­ter für Stadt und Land Mag­de­burg. Mit­tei­lun­gen des Vereins für Geschichte und Alter­tums­kunde des Her­zog­tums und Erz­stifts Mag­de­burg, Jg. 49/50 (1914/15), S. 354–370.

Keisch 1970 | Claude Keisch: Zum sozia­len Gehalt und zur Stil­be­stim­mung deut­scher Plastik 1550–1650. Sachsen, Bran­den­burg, Anhalt, Stifter Mag­de­burg und Hal­ber­stadt, 3 Bände, Diss. Berlin 1970, S. 17.

Meier 1936 | Paul Jonas Meier: Das Kunst­hand­werk des Bild­hau­ers in der Stadt Braun­schweig seit der Refor­ma­tion, Braun­schweig 1936, S. 26.

Schulze 2014 | Sebas­tian Schulze: Mit­tel­deut­sche Bild­hauer der Renais­sance und des Früh­ba­rock (=Bei­träge zur Denk­mal­kunde, 9), Regens­burg 2014, S. 95 u. 250.

(Text: Sebas­tian Schulze, 2020)

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