Skulptur in MitteldeutschlandSpätgotik bis Frühbarock
Die 1370 einsetzende Stilepoche der internationalen Gotik, auch bezeichnet als „Schöner Stil“ oder „Weicher Stil“, wurde vor der Mitte des 15. Jahrhunderts durch eine Phase abgelöst, welche die ältere Kunstgeschichtsschreibung als „Dunkle Zeit“ oder auch als „Eckigen Stil“ bezeichnete. Diese bis heute nicht befriedigend kunsthistorisch erschlossene, deshalb „dunkle“ Zeit geht der Blütezeit spätmittelalterlicher Plastik im deutschsprachigen Raum seit dem letzten Drittel des 15. Jahrhunderts voraus. Die Bildschnitzerei gewann an Bedeutung im Verhältnis zur steinernen Skulptur. Eckige, scharfkantig gebrochene, in harten Knickungen gestaute Faltenbildungen verdrängten deshalb nun häufig die weich fließenden Faltenbahnen der steinernen Gewandfiguren des „Schönen Stils“.
Die mitteldeutschen Gebiete verheerte nach den Hussitenkriegen im 2. und 3. Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts erneut 1446 bis 1451 der sogenannte Sächsische Bruderkrieg zwischen Kurfürst Friedrich II. „dem Sanftmütigen“ und seinem jüngeren Bruder Herzog Wilhelm III. Die Krisen der landesherrlichen Gewalt begünstigten das Streben vieler Städte nach Ausbau ihrer politischen Autonomie. In mächtigen Städtebünden schützten sie ihre Unabhängigkeit und ihren Handel.
Der in den Inventaren verzeichnete Bestand an Plastik in Mitteldeutschland aus den Dekaden zwischen 1450 und 1480 ist vergleichsweise klein, umfasst aber einige außergewöhnliche und qualitativ hochrangige Werke. Wichtige Werkstätten und maßgebliche Zentren der im dritten Viertel des 15. Jahrhunderts entstandenen Skulpturen lassen sich hier bislang nur in Ansätzen benennen.
Zentren der Skulpturenproduktion
Ein wichtiges mitteldeutsches Zentrum der Bildhauerei in diesen Jahrzehnten war zweifellos die große Handelsstadt Erfurt. Erhalten haben sich in Erfurter Kirche drei große, vergoldete und farbig gefasste Schnitzaltäre, die in den mittleren Jahren des 15. Jahrhunderts entstanden und sich im Aufbau ähneln: Um die Gruppe einer Marienkrönung sind in Mittelschrein und Seitenflügeln jeweils in zwei Registern Reliefs oder Statuetten angeordnet: Das erste dieser ►Retabel aus der Bartholomäuskirche, heute in der Barfüßerkirche, schnitzten bis 1445/46 Hans von Schmalkalden und Jakob von Leipzig. Es gruppiert um die Krönungsgruppe Szenen aus dem Marienleben, Heilige und Propheten. Beim ►Altar der Thomaskirche (um 1445/50) sind es entsprechend zwanzig Heiligenfiguren, beim ►“Regleraltar” in der Reglerkirche (um 1460) Reliefs mit Szenen aus dem Leben Christi. Zu den steinernen Grabdenkmälern dieser Jahre zählen in der Stadt die Epitaphien des ►Friedrich Rosenzweig (†1450) in der Predigerkirche oder des ►Siegfried Ziegler (†1464) an der Hospitalkirche. Mit dem 1467 vollendeten, von einer monumentalen Baldachinarchitektur bekrönten ►Taufstein der Stiftskirche St. Severi auf dem Domberg entstand hier eine der großartigsten sakralen Bildhauerarbeiten dieser Jahrzehnte in Deutschland. Von außergewöhnlicher Qualität ist das ebenfalls 1467 datierte, zum Teil farbig gefasste ►Alabasterrelief des hl. Michael, ebenfalls in St. Severi. Demselben Erfurter „Alabaster-Meister“ wurden weitere hochrangige alabasterne Skulpturen in Halberstadt und Magdeburg zugeschrieben, unter anderem eine annähernd lebensgroße ►Muttergottes in der Kreuzkapelle der Halberstädter Andreaskirche und eine ►Gruppe mit Schmerzensmann vor einem von Engeln gehaltenen Vorhang im Magdeburger Dom. Von einem Altar des Halberstädter Doms gelangte ein um 1460 datiertes ►Alabasterrelief mit der Darstellung des Kalvarienbergs in die Sammlung des dortigen Domschatzmuseums.
Für die Stadt Magdeburg fertigte 1449 ein Meister Kunze von Erfurt eine verlorene Roland-Statue. Bereits 1445 hatte hier unter Leitung des Meisters Johannes Brochstete im Dom der Bau des ►Lettners mit zahlreichen Statuen und einem Kreuzigungsrelief begonnen. Weitere steinerne Figurenzyklen aus dem 3. Viertel des 15. Jahrhunderts finden sich zum Beispiel an den Pfeilern und Emporen des Doms in ►Halberstadt, im Dom von Zeitz (►Apostelzyklus) oder in der Kunigundenkirche im mittelsächsischen Rochlitz, einem Zentrum des Steinmetzhandwerks, wo sich mit den ►Rochlitzer Kaiserstatuen (um 1460) auch ein in dieser Epoche in Sachsen seltenes Beispiel figürlicher Tonplastik erhalten hat.
Charakteristisch für die Frömmigkeit der Zeit ist die am innerstädtischen Universitätsring in Halle (Saale) stehende ►Betsäule mit den Reliefdarstellungen der Kreuzigung Christi und der Kreuztragung aus dem Jahr 1455: Sie diente möglicherweise neben weiteren, heute verlorenen Bildsäulen dieser Art als Markierung einer Kreuzwegstation der aufwendigen spätmittelalterlichen Passionsspiele.
Techniken und Gattungen
In der Gattung der steinernen Grabmalsplastik zählt zu den wichtigen Denkmälern dieser Jahre in Sachsen das ►Grabdenkmal des Hermann von Harras (†1451) in der Thomaskirche in Leipzig. Es gilt als das älteste sächsische Rittergrabmal eines charakteristischen Typus mit stark plastisch herausgearbeiteter Figur, einem Aufbau aus Wappen und Turnierhelm. Weitere Grabdenkmäler dieser Art finden sich unter anderem in derselben Leipziger Kirche mit der ►Grabplatte des Nickel Pflugk (†1482), außerdem im Dom von Meißen mit den Grabplatten ►für Johannes von Schleinitz, †1576 und ►Hugold von Schleinitz, †1490). Steinerne Bischofsgrabmäler der 1460er Jahre bewahren im südlichen Sachsen-Anhalt die Domkirchen in Merseburg (►für Bischof Johann II. Bose, †1464) und Zeitz (►für Bischof Peter von Schleinitz, †1463).
In der Technik der Bronze- und Messingplastik erlangte für den mitteldeutschen Raum bald nach der Mitte des 15. Jahrhunderts die Werkstatt von Hermann Vischer d. Ä. (†1488) in Nürnberg eine überragende Bedeutung. Sie lieferte Bronzegrabplatten für die Domkirchen in Merseburg (►für Bischof Thilo von Trotha, um 1470/80) und in Meißen (unter anderem ►für Kurfürst Friedrich „den Sanftmütigen“, †1464, und ►für Bischof Sigmund von Würzburg, †1471). Bereits 1457 signierte der Nürnberger Kunstgießer die aufwendige ►Messingtaufe der Marienkirche in Wittenberg. Weitere Bronzetaufen dieser Jahre finden sich zum Beispiel in der Stephanikirche in ►Aschersleben (1464, bezeichnet Meister Bertram) und in der Kirche St. Marien in ►Stendal (1474, Lübecker Werkstatt?).
Im Rathaus des altmärkischen Stendal, damals die größte und wohlhabendste Stadt des Kurfüstentums Brandenburg, hat sich mit der aufwendigen, aus ornamentalen und figürlichen Flachschnitzereien zusammengesetzten ►Holzvertäfelung (1462) eine der selten gewordenen profanen Bildschnitzerarbeiten dieser Jahre erhalten. Nach der Befriedung der Mark Brandenburg durch die Kurfürsten aus dem Hause Hohenzollern erlebte die Altmark in den mittleren Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts eine wirtschaftliche und kulturelle Blütezeit. Folgerichtig verzeichnen die Kunstinventare der altmärkischen Dorf- und Stadtkirchen verhältnismäßig viele Skulpturen dieser Jahre. Dazu zählen beispielweise in der Johanniskirche in Werben das ►Relief einer Kreuzigungsgruppe mit der hl. Ottilie und dem Stifter (1455) sowie ein ►Ölbergrelief, vermutlich Teil eines Kreuzwegs (um 1460/70), im Dom von Havelberg ein steinernes ►Altarretabel (um 1460) und in der Marienkirche in Gardelegen eine ►monumentale Triumphkreuzgruppe (um 1450).
Werke sakraler Holzplastik dieser Jahrzehnte, insbesondere Schnitzretabel beziehungsweise vorwiegend aus Schnitzretabeln stammende Einzelfiguren, haben sich vereinzelt in den Kirchen der gesamten Großregion erhalten: Im Dom von Naumburg sind in den Korb der Kanzel ►Reliefs einer älteren Kanzel von 1466 integriert. Der Dom des benachbarten Bistums Merseburg besitzt ein mit Figuren und Ornamenten verziertes ►Chorgestühl (1446), der Dom von Halberstadt ein ►Retabel mit dem Relief eines Vesperbildes, die Kirche im mansfeldischen Stedten ein ►Schnitzaltar mit Marienkrönung (um 1460). Sehr viel größer ist die Zahl der in den Kunstinventaren verzeichneten Schnitzretabel aus dem Zeitraum um 1470 mit dem die Blütezeit der spätgotischen Skulptur einsetzt.
weiter mit Spätgotik (circa 1470/80 – 1520/30)
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