Skulptur in MitteldeutschlandSpätgotik bis Frühbarock
Das 2017 bis 2019 vom Land Sachsen-Anhalt (Wirtschaftsministerium) geförderte Projekt „Plastik der Harzregion“ hat sich die Erfassung der Werke figürlicher Plastik des mittleren 15. bis mittleren 17. Jahrhunderts in Kirchen, Profanbauten, im öffentlichen Raum und in Sammlungen im Harz und Harzvorland zum Ziel gesetzt. Das Untersuchungsgebiet umfasst in Sachsen-Anhalt die Landkreise Harz, Mansfeld-Südharz sowie den südwestlichen Salzlandkreis, in Niedersachsen die Landkreise Osterode und Goslar, in Thüringen den Landkreis Nordhausen sowie den Kyffhäuserkreis bis zur Linie Wipper-Unstrut.
Die geschichtliche und kulturelle Bedeutung der Harzregion äußert sich in einer hohen Dichte herausragender Baudenkmäler, reizvoller städtebaulicher Ensembles und einem Bestand an Kunstwerken, der zum Teil auf hohem qualitativem Niveau kunsthistorische Entwicklungen vom Mittelalter bis zum Historismus repräsentiert. Drei Städten der Region, Quedlinburg, Eisleben und Goslar, wurde der UNESCO-Weltkulturerbetitel verliehen. Dem reichen kulturellen Erbe in Verbindung mit den landschaftlichen Reizen verdankt das Gebiet seinen Status als eine Kernregion des Fremdenverkehrs in Mitteldeutschland, die im Vergleich mit den Besucherzahlen anderer deutscher Destinationen noch erhebliches Potential besitzen dürfte. Die kunsthistorische Erforschung und Publikation des Denkmalbestandes will dazu einen Beitrag leisten.
In Anknüpfung und Weiterentwicklung älterer Projekte im Rahmen der Minerva-Datenbank erfolgt die Veröffentlichung in einem Web-Portal. Im Sinne der „Open-Access-Bewegung“ erhöht diese Publikationsform die Reichweite und begünstigt damit neben der wissenschaftlichen Rezeption auch eine Nutzung für die bildungs- und tourismusorientierte Vermittlungsarbeit vor Ort. Zudem ermöglicht das digitale Format die künftige Weiterentwicklung der Inhalte und die Erprobung neuer Technologien. Das Minerva-Portal bietet dabei die Infrastruktur für weitere Projekte aus dem weiten Themenfeld der mitteldeutschen Plastik, deren Realisierung auf Basis nationaler Wissenschaftsförderung perspektivisch angestrebt wird.
In der Harzregion lag der bisherige Forschungsschwerpunkt im Bereich der Plastik mit großer Ausschließlichkeit auf den hochmittelalterlichen Denkmälern. Ziel des Projektes ist nun die Erforschung von Werken figürlicher Plastik der Spätgotik, der Renaissance und des Frühbarock (ca. 1450–1650). Die Erfassung dieser Kunstwerke in Bild und Text dient als Grundlage ihrer kunsthistorischen und regionalgeschichtlichen Einordnung. Herausragende Werke werden stärker in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt, künstlerische Traditionen beschrieben, wichtige Zentren und Werkstätten nach Möglichkeit festgestellt. In die Auswertung der inventarisierenden Erfassung werden Fragestellungen zur Kunst- und Kulturgeschichte der Harzregion einbezogen, die wichtig für die geschichtliche Identität der Region sind. Nach einer vorläufigen Sichtung des Materials lassen sich folgende Themenkomplexe, Thesen und mögliche Lösungsansätze für eine weitere Beschäftigung mit den Objekten formulieren:
Das Harzgebiet als „Brückenlandschaft“
Der Harzraum ist für das Spätmittelalter und die Frühe Neuzeit aus historischer Perspektive als eine „Brückenlandschaft“ [Schubert 2003, S. 16] nur vage zu beschreiben. Das Gebiet zwischen den Einflusssphären der Welfen auf der einen Seite und den Wettinern auf der anderen Seite lässt sich weder politisch noch naturräumlich exakt fassen. Charakteristisch für die Geschichte der Region in der Frühen Neuzeit aber ist die Verflechtung und Überlagerung verschiedener Institutionen von Herrschaft: „Die Besitzungen der später sogenannten Harzgrafen, der Grafen von Stolberg, Honstein und Regenstein, lagen in einer ehemals zentralen Region hochmittelalterlicher Königsherrschaft. Diese war im 16. Jahrhundert gekennzeichnet von einem engen miteinander fürstlicher (Braunschweig, Anhalt), geistlicher (Quedlinburg, Halberstadt) und gräflicher Territorien“ [Czech 2003, S. 19].
Diese »Kleinstaatlichkeit« war einerseits ein Grund für die fehlende Konsistenz in der regionalen Kunstproduktion und die nicht erfolgte Ausbildung einer kulturlandschaftlich geprägten Kunstsprache, andererseits – so kann als These formuliert werden – lieferte sie kulturelle Impulse insbesondere auch auf dem Gebiet der Skulptur. Denn bei vielen der kleineren Grafengeschlechter, die in diesem Gebiet ihrer Residenzen hatten, bildete sich aus dieser subalternen Position heraus eine Art Eigenständigkeitsgefühl heraus, das sich auch in einer repräsentativen Kunstförderung ausdrückte. Das Aufkommen und die Intensivierung einer höfischen Erinnerungs- und Gedächtniskultur sorgte auf der anderen Seite dafür, dass die konkurrierenden Adelsgeschlechter sich im Hinblick auf eine dynastische Selbstdarstellung zu übertrumpfen versuchten. Dies lässt sich besonders deutlich in der Gestaltung der Grabanlagen ablesen [Meys 2009; Brinkmann 2010; Seher 2016].
„Harzkunst“ vs. Kunst im Harzgebiet
Eine eigenständige „Harzkunst“ [Rüdiger 1940, S. 2] hat es im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit nicht gegeben. Der Harz war kunstgeschichtlich in der Tendenz eher eine Barriere beziehungsweise ein Durchgangsraum als eine eigenständige Kunstlandschaft. Dies zeigt sich unter anderem in der Tatsache, dass sich für den Untersuchungszeitraum kaum bedeutende, einheimische Bildhauerateliers nachweisen lassen. In der Spätgotik waren die wichtigen Werkstätten in Erfurt, Leipzig, Hildesheim oder Braunschweig ansässig. Barthold Kastrop belieferte viele Orte im Westharz von seiner Werkstatt in Göttingen.
Auch in der Frührenaissance kamen die stilbildenden Künstler von außerhalb. Hans Schlegel, der bedeutende Werke für die Mansfelder Grafen in Mansfeld und Eisleben schuf, kam wohl aus Franken an den Hof Kardinal Albrechts nach Halle, wo er auch das Bürgerrecht erwarb.
Viele Adlige und geistliche Würdenträger bestellten ihre Grabplatten bei der Werkstatt Peter Vischers in Nürnberg, so z. B. Gräfin Elisabeth von Stolberg (1505) oder der Halberstädter Domprobst Balthasar von Neuenstadt (1516) [Hauschke 2006]. In späterer Zeit scheint es im Harzgebiet ebenfalls keine Bronzeguss-Werkstatt gegeben zu haben, die anspruchsvolle Aufträge, wie Grabplatten, ausführen konnte. Die Halberstädter Domherren bestellten im späten 16. Jahrhundert ihre bronzenen Grabplatten vornehmlich in Braunschweig bei Gießern wie Hans Meißner und Hans Wilkens oder in Halle bei Georg Wolgast. Der Magdeburger Erzbischof Friedrich IV. von Brandenburg engagierte für sein monumentales Epitaph im Chor des Halberstädter Doms 1558 den Berliner Hofbildhauer Hans Scheußlich.
Andere für die Harzregion bedeutende Bildhauerateliers haben ihren Sitz in Nordthüringen im östliche Niedersachsen oder in Leipzig. Eine Ausnahme stellt vielleicht der Bildhauer Zacharias Bogenkrantz dar, der sich 1589 als Einwohner von Sinsleben (bei Ermsleben) nachweisen lässt und außer Grabmälern für die Grafen von Hoym in der unmittelbaren Umgebung (Ermsleben) auch die Kanzel der Moritzkirche in Halle fertigte und dem weitere Bildwerke in der Harzregion (u. a. in Halberstadt, Hecklingen) zugeschrieben werden können [Schulze 2014, S. 50–98]. Erst im 17. Jahrhundert tritt uns mit Andreas Gröber am Westharz eine eigenständige, regional bedeutende Bildhauerwerkstatt entgegen.
Infrastruktur und Bodenschätze
Begünstigt wird der Austausch künstlerischer Ideen und Objekte neben der vergleichsweise großen Anzahl potentieller, adliger Auftraggeber, zusätzlich durch die günstige und zentrale Lage der Harzregion. Mansfeld etwa, Hauptsitz der Grafen und Mansfeld, bedeutendes Zentrum der Silber- und Kupferbergbaus und ein Zentralort der mitteldeutschen Frührenaissance, lag am Kreuzungspunkt der Handelsstraßen Leipzig-Halle-Nordhausen und Erfurt-Magdeburg [Roch 1963].
Eine wichtige Rolle für die Entwicklung der Plastik spielten zudem, wie bereits angedeutet, die reichen Rohstoffvorkommen an Steinen und Metallen im Harzgebiet. Schon früh wurde dieser Reichtum an Bodenschätzen entsprechend wahrgenommen und gewürdigt [vgl. Behrens 1712]. So ist es beispielsweise auffällig, dass die reichen Vorkommen von Alabaster vor allem im Südharz um Stolberg auch zu einer vergleichsweise häufigen Nutzung dieses Materials auch in kleineren Kirchen und für bürgerliche Grabmäler führten (z. B. Stolberg, Kelbra, Sangerhausen). Die Verhüttung von Kupfer und Silber, die schon im Hochmittelalter einsetzte, führt besonders bei den Grafen von Stolberg und Mansfeld zu einem hohen Wohlstand, dessen Nutznießer aber auch Bürgertum und Landbevölkerung waren [Knape 2000; Brückner 2007]. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass der kapital- und technologieintensive Bergbau, ähnlich wie im sächsischen Erzgebirge um 1500, innovationsfördernd auch auf das künstlerische Schaffen wirkte. Dies lässt sich etwa in Mansfeld gut nachvollziehen, wo die Hüttenmeister so viel Ansehen erlangen konnten, dass sie als eigenständige Stiftergruppe auftreten und das Retabel des Kreuzaltars in der Stadtkirche St. Georg stifteten.
Unter den Stiftern findet sich auch Hans Luder, der Vater Martin Luthers, der als Hüttenmeister und Ratsherr ein angesehener Bürger von Mansfeld war. Daran wird ersichtlich, dass Bürgerliche zu Beginn des 16. Jahrhunderts selbst in Adelsresidenzen wie Mansfeld, ein immer wichtiger werdender Faktor im kirchlichen Stiftungswesen wurden. Die Reformation hat diese Tendenz dann zusätzlich verstärkt.
Die Reformation als kultureller Bruch?
Die Einführung der Reformation stellt dabei vielerorts aber nicht zwingend einen kunsthistorischen Bruch dar. Im Dom zu Halberstadt, wo die Reformation 1591 vergleichsweise spät eingeführt wurde, lässt sich in den Jahrzehnten davor und danach ein vergleichsweiser toleranter Umgang mit der jeweils anderen Konfession beobachten. Dies zeigt sich etwa an der Kanzel, die 1592 – also ein Jahr nach der Einführung der Reformation – errichtet wurde. Deren Bildprogramm mit den drei theologischen Tugenden, den vier Evangelisten und einer Himmelfahrt Christi an Kanzelaufgang und ‑korb nebst den dazugehörigen Inschriften ist so allgemein gehalten, dass trotz der prominenten Nutzung der Kanzel im evangelischen Gottesdienst alle Mitglieder des gemischt-konfessionellen Domkapitels – also auch jene, die weiterhin katholisch blieben – mit ihren Wappen auf dem Schalldeckel präsent waren. Es ging offensichtlich darum, zumindest nach außen hin, Brüche abzumildern und den Konsens zu betonen [Fuhrmann 2006]. Dies wird besonders deutlich, wenn man die keine 200 Meter entfernt und wohl nur drei Jahre später gestiftete Kanzel der Halberstädter Martinikirche zum Vergleich heranzieht. Dort wird im Text-Bildprogramm den Kirchenbesuchern das lutherische Glaubensbekenntnis aufgerufen und kommentiert.
Auch im Bereich der Grabmäler im Halberstädter Dom lässt sich eine gewisse Spannung von Diskontinuität und Kontinuität beobachten. So wird mit dem Epitaph für Matthias von Veltheim bereits 1553 ein Monument mit dezidiert lutheranischen Text- und Bildprogramm im Domkreuzgang aufgestellt, während noch um 1600 die der katholischen Konfession treu gebliebenen Domherren Johannes von Britzke († 1600), Joachim von Borch († 1601) und Friedrich von Britzke († 1606) Grabmäler in ganz traditionellen Formen errichtet wird. In der Folge wird dieser Grabmaltypus dann von den evangelischen Domherren aber offenbar nicht aufgegriffen. Das einzige erhaltene Grabmal eines evangelischen Domherren aus dieser Zeit, dasjenige von Kanonikus Johannes Georg Vitzhum von Eckstedt († 1641), kommt ohne figürliches Bild des Verstorbenen, nur mit Wappen und Inschriften aus. Neue Bildformulare lassen sich vor allem auch im Bereich der bürgerlichen Grabmäler, die erst mit der Reformation vermehrt aufkommen, feststellen. Dazu gehören etwa die besagten Wappen-Inschriften-Grabsteine, aber auch die Kindergrabmäler, wie sie sich vielerorts (Halberstadt, Quedlinburg, Sangerhausen, Wernigerode u. v. a) finden lassen.
Literaturhinweise:
Behrens 1712 | Georg Henning Behrens: Hercynia Curiosa, oder Curiöser Hartz-Wald: Das ist Sonderbahre Beschreibung und Verzeichniß Derer Curiösen Hölen, Seen, Brunnen, Bergen, und vielen andern an- und auff dem Hartz vorhandenen Denckwürdigen Sachen, Nordhausen 1712.
Brinkmann 2010 | Inga Brinkmann: Grabdenkmäler, Grablegen und Begräbniswesen des lutherischen Adels. Adelige Funeralrepräsentation im Spannungsfeld von Kontinuität und Wandel im 16. und beginnenden 17. Jahrhundert (Kunstwissenschaftliche Studien, Bd. 163), Berlin/München 2010.
Brückner 2007 | Jörg Brückner: Adel und Bergbau. Die Grafen zu Stolberg als Montanunternehmer zu Beginn der Frühen Neuzeit, in: Adel in Sachsen-Anhalt: höfische Kultur zwischen Repräsentation, Unternehmertum und Familie, hg. von Eva Labouvie, Köln 2007, S. 269–292.
Czech 2003 | Vinzenz Czech: Legitimation und Repräsentation. Zum Selbstverständnis thüringisch-sächsischer Reichsgrafen in der frühen Neuzeit (Schriften zur Residenzkultur, 2), Berlin 2003.
Fuhrmann 2006 | Hans Fuhrmann: Die Reformation des Halberstädter Doms im Spiegel epigraphischer Denkmäler, in: Epigraphik 2000. Neunte Fachtagung für mittelalterliche und neuzeitliche Epigraphik. Klosterneuburg 9.–12. Oktober 2000, hg. von Gertrud Mras und Renate Kohn, Wien 2006, S. 257–280.
Hauschke 2006 | Sven Hauschke: Die Grabdenkmäler der Nürnberger Vischer-Werkstatt (1453–1544), Petersberg 2006.
Knape 2010 | Martin Luther und der Bergbau im Mansfelder Land, hg. von Rosemarie Knape, Eisleben 2000.
Meys 2009 | Oliver Meys: Memoria und Bekenntnis. Die Grabdenkmäler evangelischer Landesherren im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation im Zeitalter der Konfessionalisierung, Regensburg 2009.
Roch 1963 | Irene Roch: Zur Renaissanceplastik in Schloß Mansfeld und Eisleben, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, gesellschaftliche und sprachwissenschaftlich Reihe 12 (1963), S. 765–784.
Rüdiger 1940 | Wilhelm Rüdiger: Leipziger Plastik der Spätgotik (Versuch einer Scheidung nach Stammescharakteren), Borna 1940.
Schubert 2003 | Ernst Schubert: Die Harzgrafen im ausgehenden Mittelalter, in: Hochadelige Herrschaft im mitteldeutschen Raum (1200 bis 1600). Formen — Legitimation — Repräsentation, hg. von Jörg Rogge (Quellen und Forschungen zur sächsischen Geschichte, 23), Leipzig 2003, S. 13–115.
Schulze 2014 | Sebastian Schulze: Mitteldeutsche Bildhauer der Renaissance und des Frühbarock (Beiträge zur Denkmalkunde, 9), Regensburg 2014.
Seher 2016 | Sophie Seher: Die Grablegen der Wettiner. Repräsentation im Zeitalter der Reformation (Palmbaum-Texte: Kulturgeschichte, 36), Bucha bei Jena 2016.
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